Blut, Wasser und deren Dichte
Blut ist ja bekanntlich dicker als Wasser, so sagt es zumindest das altbekannte Sprichwort. Gerade während der Feiertage wird dieses Sprichwort immer wieder auf die Probe gestellt und meine Meinung dazu hat sich während der letzten Jahre stark verändert.
Ich durfte in ausserordentlich harmonischen Verhältnissen aufwachsen und bin sehr dankbar dafür, wobei mir diese Einsicht ziemlich lange verborgen blieb. Natürlich gab es prägende Momente, die unseren familiären Zusammenhalt stärkten, wobei er auch auseinanderfallen hätte können. Weihnachten ist ein Fest der Liebe und der Familie, doch nicht für alle.
„Blut ist dicker als Wasser“ heisst das Sprichwort und bedeutet im übertragenen Sinne, dass Blutsverwandtschaft eine stärkere Bindung bedeutet als andere Verbindungen. Wenn man so aufwachsen darf wie ich es durfte, scheint dieses Sprichwort Sinn zu machen und man kann sich nicht vorstellen, dass irgendetwas anderes wichtiger sein könnte als die Familie. Dem entsprechend ist es auch eine unglaubliche Tragödie, wenn man von jemandem hört, dass er oder sie keinen oder kaum mehr Kontakt zu anderen Familienmitgliedern hat. Dass jeder einzelne dieser Familie seine eigene Ansicht auf diese Situation hat und alle diese Ansichten grundverschieden sein können, ohne dass jemand „falsch“ liegt, war mir damals nicht bewusst. Wie komplex und verzwickt solche Situationen wirklich sein können lernt man erst, wenn man sich etwas ausführlicher mit dem Thema Kommunikation beschäftigt.
So hatte ich also dieses Sprichwort als passend empfunden, bis ich in die USA umgezogen bin und alle möglichen Familientragödien indirekt miterlebt oder aus meinem nächsten Umfeld erzählt bekommen habe. Es waren viele unschöne Geschichten darunter und diese liessen mich sehr schnell realisieren, dass es nichts bringt oder sogar eher kontraproduktiv sein kann, wenn man mit seiner Familie trotz grösster Konflikte den Kontakt zu pflegen versucht. Diese Ansicht kann manchmal sehr schwer nachvollziehbar sein und bestimmt gibt es manchmal Lösungen, ohne dass man den Kontakt gleich abbricht, aber das ist etwas genauso individuell wie die Konfliktsituation selbst.
Wenn man zum Beispiel von seinen eigenen Eltern nicht so geschätzt wird wie es jeder verdient hätte, dann ist es einerseits unglaublich schwierig, dies zu akzeptieren und damit klar zu kommen, andererseits ist es wahrscheinlich fast noch zermürbender, erfolglos um diese Anerkennung zu kämpfen. Es kann ein harter Kampf sein bis man bemerkt, dass nicht die Anerkennung der Sieg bedeutet, sondern die Einsicht, dass genau diese Anerkennung eben nicht der Sieg bedeutet. Der Sieg wäre die Selbstanerkennung, die Unabhängigkeit von all diesen Mustern und Glaubenssätzen, in welchen man aufgewachsen ist. Das gilt nicht als Vorwurf an die ältere Generation, sondern ist eine einfache Feststellung, dass manche gesellschaftlichen Glaubenssätze veraltet sind oder nicht dem Individuum dienen. Unsere Eltern und Grosseltern haben das getan, was sie als richtig und dienlich empfunden haben und wir sollten uns deshalb auf unsere eigenen Glaubenssätze und Muster konzentrieren, anstatt irgendeine Schuld für unsere eigene Misere an andere Generationen schieben zu wollen. Wie so oft weiche ich langsam vom Thema ab, darum zurück zur Familie und wieso sie nicht bei allen an oberster Stelle steht und das so auch in Ordnung sein kann.
Ist der Kontakt zu gewissen Familienmitgliedern von Konflikten geprägt und können diese Konflikte nicht gelöst werden, dann ist es meiner Meinung nach sinnvoller, den Kontakt abzubrechen anstatt sich selbst aufzuopfern im Versuch, die Beziehung künstlich aufrecht zu erhalten. Das muss ja nicht gleich bedeuten, dass dieser Kontakt für immer auf Eis gelegt wird. Umstände können sich jederzeit ändern und so sollte man nicht gleich alle Brücken verbrennen, aber auch das muss jeder situativ selbst entscheiden. Niemand, ausser wir selbst, kann in solchen Situationen entscheiden, was das Beste für uns ist.
Passenderweise durfte ich meine Lektion dazu auch noch lernen, während ich in den USA lebte. Wir haben Verwandte an der Westküste, wobei ich in Michigan lebte. Trotz dieser Distanz war ich der einzige Schweizer Verwandte in der Umgebung. Wie aus dem Nichts bahnte sich ein Konflikt an und ich versuchte diesen genauso schnell wieder ins Nichts zu befördern. Meine guten Absichten wurden aus damals unerklärlichen Gründen eher durch eine Eskalation anstatt durch eine Schlichtung des Konflikts belohnt. Gezwungenermassen musste ich dann auf Abstand gehen, was vor allem aus diesem Grund eine Herausforderung war, weil ich im selben Land lebte und allen eigentlich sehr nahe stand.
Im Nachhinein ist man immer schlauer und meine grösste Lehre daraus war, dass man die Ansichten anderer niemals unterschätzen darf. Auch wenn dir ein Blinder eine eckige Kugel beschreibt, sollte seine Ansicht unbestritten akzeptiert werden. Die nächste Herausforderung ist dann, seine Grenzen kennen zu lernen. In meinem Beispiel hatte ich alles in meiner Macht stehende versucht und danach musste ich damit abschliessen. Jemanden sozusagen „an das Leben zu verlieren“ kann sehr schmerzhaft sein und stellt ähnliche Forderungen an sich selbst wie ein Todesfall. Und doch ist es wieder etwas anderes.
Doch was hat das alles mit den Feiertagen zu tun? Zeit mit der ganzen Familie verbringen weil das alle so machen und weil man doch mindestens an Weihnachten gut miteinander auskommen sollte, das ist leider eine riesengrosse, künstliche Fassade in unserer heutigen Gesellschaft. Diese Fassade wird zwar auf dem Fundament der Liebe aufgebaut, aber leider so vermarktet, dass die Fassade aus einer Wand leerer Schachteln besteht.
Es gibt sehr viele Menschen, die sich gerade an Weihnachten einsam fühlen und das zeigt einer von vielen Gegensätzen im Leben. Das Fest der Liebe und dies nur für jene, die von Liebe umgeben sind und / oder Liebe bedingungslos geben können. Für alle anderen wird dasselbe Fest zum Fest der Trauer oder der Einsamkeit. Es ist wie so oft im Leben: Der Vorteil der einen Gruppe wird zum Nachteil einer anderen Gruppe. Der Hauptumsatz vieler Geschäfte ist auf der anderen Seite die Ursache vieler zusätzlicher Konflikte.
Ich wünschte mir, dass sich diese „Einsamen“ irgendwo finden könnten und so ihr eigenes Umfeld mit Geborgenheit erschaffen könnten. Und zwar nicht nur während der Festtage.
Und stellt euch vor, wir würden nächstes Jahr all unsere geballte Ladung an Liebe das ganze Jahr über verteilen und sie nicht auf Weihnachten „aufsparen“. Wir hätten bestimmt viel mehr davon, als wir uns vorstellen können. Wir haben viel mehr Liebe in uns, als wir denken und wir würden mehr davon zurück erhalten, wenn wir sie „regelmässiger“ verteilen würden.
Geniesst die Festtage und rutscht gut ins neue Jahr!
Stille Nacht, fröhliche Nacht, Schicht im Schacht.
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