Jachen Wehrli, Teil 2: Vom Burnout auf die Bühne
Nach zwei Zusammenbrüchen innerhalb von zwei Jahren begibt sich Jachen Wehrli Ende September 2018 in die Burnout-Fachklinik Holistica in Susch. Ihm wird ausreichend Zeit gegeben, sich an den dortigen Ablauf zu gewöhnen. Da erinnert er sich an die stetigen Bemerkungen seiner Kinesiologin, er solle doch seine Gedanken aufschreiben. So versucht Jachen seine Situation in Worte zu fassen und bringt diese auf Papier. Er findet bald Gefallen daran und es wirkt so befreiend, dass er einer seiner Texte auf Video aufnimmt und seiner Familie schickt, die mit Begeisterung darauf reagiert!
Bald entsteht sein Text namens „Discounter Burnout“, in welchem er versucht, seine Situation und sein innerer Kampf zu beschreiben. Er stellt sich endlich seinem Feind! Als Beweis nimmt er es wieder als Video auf und lädt es kurzerhand öffentlich auf Facebook hoch. Als Reaktion darauf erhält er nicht nur von seinem Umfeld und Freunden, sogar auch von Personen ausserhalb seines Bekanntenkreises sehr motivierende und dankende Nachrichten. Es sei schön, wie offen er ein Tabuthema anspräche und es sei sehr mutig, sich auf diese Art zu Outen.
Dann geschieht etwas Unglaubliches: Von einem Tag auf den anderen meldet sich Jachen’s Körper wieder zurück zum Dienst. Jachen’s Körper funktioniert wieder! Seine Beinschwäche ist weg und er kann wieder, nach einem endlos langen Jahr, problemlos Treppen laufen und trainieren. Seine Kraft ist zurück und es zeigt sich endlich ein erster Erfolg in dieser schier aussichtslos scheinenden Episode der Erkrankung. Doch was ist passiert? Ist das alles durchs Schreiben ausgelöst worden? Es ist ja nicht einfach nur ein „Geschreibe“, sondern Jachen’s schriftliche Einsicht, dass eine Rückkehr in sein altes Muster keine Option mehr ist. Diese Einsicht und der Gang an die Öffentlichkeit lösen die ersten Schritte der Genesung aus. Jachen schreibt also regelmässig weiter, reflektiert sich selbst und seine Situation und sein Befinden verbessert sich von da an täglich. Er kam als emotionales Wrack in der Klinik an, unfähig zwei Sachen zu erledigen, und verlässt sie acht Wochen später als kreativer Texter und Geschichtenschreiber. Er möchte sich natürlich unbedingt weiter mit Schreiben beschäftigen und war schon immer von Poetry Slam begeistert, so befasst er sich etwas mehr mit diesem Thema.
Poetry Slam ist ein Wettkampf unter Poeten und Dichtern und dabei gelten folgende Regeln: Jeder Teilnehmer hat 6 Minuten Zeit, seinen Text vorzutragen. Der Text muss selbst geschrieben sein, wobei Zitate erlaubt sind. Es dürfen keine Hilfsmittel ausser einem Textblatt verwendet werden. Der Text muss grösstenteils gesprochen sein, darf also nicht durchgehend gesungen vorgetragen werden. Und eine Regel gilt dem Publikum und zwar, dass der vortragende Poet respektiert wird.
Jachen bespricht also sein Vorhaben mit seiner Psychiaterin und Case Managerin. Er wird darauf hingewiesen, dass diese schonungslose Veröffentlichung seiner persönlichen Gedanken bei seiner zukünftigen Stellensuche je nach Arbeitgeber ein Hindernis darstellen könnte. Dem ist sich Jachen bewusst und er ist sich auch seines Weges sicher. Ihm ist es viel wichtiger, sich für das Thema Burnout einzusetzen, als mögliche Arbeitsstellen damit zu riskieren. Er würde auch nie für eine Firma arbeiten gehen, die seine Vergangenheit nicht akzeptiert.
Kurz darauf kontaktiert Jachen die Veranstalter vom „Slam in der Werkstatt“ und absolviert bereits im Januar 2019 seinen ersten Slam in Chur. Seine Depression schlummert immer noch irgendwo tief in seinem Innern und auch seine soziale Phobie ist noch präsent, daher bringt er seine Familie und ein paar nahestehende Freunde mit zur emotionalen Unterstützung. Jachen ist nervös. Er wird auf die Bühne gebeten und er trägt seinen Text vor. Er blendet das Publikum komplett aus und alles läuft nach Plan. Seine erste Erfahrung mit der Bühne ist sehr zufrieden stellend und er möchte mehr!
In derselben Nacht schreibt Jachen noch etwa ein Duzend weitere Slam Veranstalter an und schickt ihnen auch gleich ein Video mit, das in der Werkstatt aufgenommen wurde. Er erhält von überall her zusagen und freut sich riesig. Ende Januar nimmt er an seinem zweiten Slam teil und mit dem Text „stockfinsteri Nacht“, bei welchem es um seine Depression geht, gewinnt er auch gleich. Das Thema Depression trifft beim Publikum auf enorm viel Resonanz, es berührt sehr viele Leute und genau deshalb möchte es Jachen auch thematisieren und auf die Bühne bringen. Nebst seinen sehr persönlichen und ernsten Texten beschreibt er mittlerweile auch andere Themen oder Situationen aus dem Alltag und sorgt damit für so manche Lacher.
Die ganze Texterei gefällt Jachen dermassen und es tut ihm so gut, dass er im März beginnt mit dem Gedanken zu spielen, ein eigenes Soloprogramm auf die Beine zu stellen. Er hat nichts zu verlieren und ist sich bewusst, dass es Rückschläge geben wird, aber eben genau dieses Bewusstsein macht ihn unaufhaltbar. Bevor Jachen beginnt, konkret an seinem Soloprogramm zu schreiben, kontaktiert er landesweit verschiedene Veranstalter um die Situation besser einschätzen zu können. Er hat nur ein paar kurze Videos an Material zu bieten, aber kriegt bereits erste Zusagen! Etliche Veranstalter sind von seiner Idee überzeugt und stellen ihm ihre Bühnen für jeweils zwei Stunden zur Verfügung. Was für eine Chance!
Auch die Unterstützung seitens seiner Psychiaterin ist da, obwohl der Schritt zurück in die Arbeitswelt noch nicht realisierbar ist. Doch was er macht ist die bestmögliche Therapie: einerseits das Schreiben und andererseits vor allem die öffentliche Darbietung. Die ungefilterte Präsentation seiner tiefsten Ängste und Sorgen ist therapeutisch gesehen unglaublich förderlich für seine Genesung.
Weiter erhält Jachen noch Anfragen für Moderationen oder themenspezifische Texte und er nimmt richtig Fahrt auf. Um seine Zukunft zu planen und seinen Wiedereinstieg in die Arbeitswelt auch schon etwas vorzubereiten, gründet er unter Absprache mit allen betroffenen Stellen seine Einzelfirma „Jachen Wehrli Texte & So.“ (www.wehrli-poetry.ch). Im Juni 2019 erscheint im Blick ein persönliches Interview, was wiederum viele sehr positive Rückmeldungen und weitere Aufträge einbringt. Während der Zeit bis zur Wiedereingliederung ist Jachen sehr froh, dass er mit dem Poetry Slam eine neue Leidenschaft gefunden hat und nun kommen wir wieder zurück auf den Abend des 10. September in der Werkstatt in Chur, wo es um die Krönung eines Siegers geht.
Jachen und Kilian erhalten jeweils ihren Applaus und die Moderatoren Pierre und Fabian stehen vor einem sehr knappen Ergebnis. Doch der Sieger steht fest: Jachen gewinnt diesen Slam! Ich finde es hier wichtig zu erwähnen, dass es weder Jachen noch den anderen Teilnehmern um den Sieg geht. An einem Abend wie diesem gibt es so unglaublich vielseitige Texte zu hören über Ängste, Sorgen, Krankheiten, Tod, Klischees, Beziehungen, Liebe, Lebenssinn, Unsinn, Wahnsinn etc. Daher ist es eigentlich unmöglich, diese miteinander zu vergleichen und einen Gewinner zur küren, es ist mehr eine Formsache. Es war auf jeden Fall ein sehr eindrücklicher Tag und die Szene des Poetry Slams hat mich definitiv in seinen Bann gezogen. Mehr Infos dazu gibt es auf www.poetryslam.ch
Im nächsten und letzten Teil dieser Serie gibt es dann noch ein Interview mit Jachen Wehrli, in welchem er ein paar sehr persönliche Fragen beantwortet und uns seine wichtigsten Erkenntnisse und ein paar Juwelen aus seinem riesigen Erfahrungsschatz weitergibt. Meine ursprüngliche Idee war eigentlich auch „nur“ ein Interview mit Jachen zu führen, doch seine ganze Geschichte ist meiner Meinung nach viel zu eindrücklich, um sie nicht zu publizieren.
In diesem Sinne: Fortsetzung folgt…
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