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Midlife Burnout - Die Premiere


 

Jachen Wehrli: Midlife Burnout – Die Premiere

 

Im ersten Soloprogramm des Cazner Slam Poeten Jachen Wehrli geht es um seine Erkenntnisse der letzten Jahre und um die gesellschaftlich aktuellen Themen Depression, Burnout und Familie. Er spickt seine persönlichen Erlebnisse mit viel Humor und nennt diese Art Unterhaltung „Stand up Poetry“. Es ist eine Mischung von Stand up Comedy und Poetry Slam und genau diese Mischung macht das Programm so eindrücklich und berührend.

 

Es ist Freitag, den 25. Oktober 2019, 19.30 Uhr und wir befinden uns im Cuadro 22 in Chur. Das kleine Lokal hat seine eigene Persönlichkeit und eine ganz besondere Ausstrahlung. Es ist mein erster Besuch hier und ich empfinde es dem entsprechend als eine ungewöhnliche Atmosphäre. Dieses neuartige Gefühl passt sehr zur dezenten Anspannung in der Luft. Ich freue mich riesig auf das neue Programm und bin mir sicher, dass es nicht nur mir so ergeht. Das Cuadro 22 ist restlos ausverkauft, die Plätze füllen sich und die Vorstellung beginnt.

 

Jachen eröffnet den Abend zusammen mit seiner 12-jährigen Tochter Madlaina. Ausserhalb dieses Programms treten sie manchmal an Teamevents in der Poetry Slam Szene unter dem Namen „The pink fluffy Junikäfer“ auf. Poetry ist Englisch für „Poesie“, also Dichtkunst und als „Slam“ bezeichnet den Wettkampf, den sich die Poeten unter einander leisten, indem sie ihre vorgetragenen Kurztexte vom Publikum bewerten lassen. Für solche Wettkämpfe hat Jachen bereits viele Texte geschrieben und diese sind Teil seines Programms. Im ersten Text des Abends geht es um Kinder und die Frage „Warum?“. Der verspielte und lustige Einstieg bringt ein paar ernste Fragen zum Vorschein, aber auf eine angenehme Art. Das Eis ist gebrochen, die Stimmung ist locker und Madlaina kündigt den Star des Abends an: Jachen Wehrli!

 

Ich werde natürlich nicht das ganze Programm zusammenfassen, sondern picke nur die mir am eindrücklichsten Momente heraus. Jachen erzählt von seinen Erlebnissen in den letzten Jahren, vom Burnout und den Zusammenbrüchen und Depressionen. Von seinen etlichen Aufenthalten in Spitälern und Kliniken. Er erzählt uns auf unterhaltsame Art seine Lehren und Erkenntnisse, die er daraus zieht. Es gibt keine Tabuthemen, es wird über alles gesprochen.

 

Jachen steigt mit einem etwas ernsteren Text ein und bald wird es mäuschenstill im Cuadro 22. Das einzige Geräusch nebst seiner Stimme ist das Holz unter seinen Füssen, das sich taktvoll zu seinen Bewegungen meldet und in manchen Situationen die Spannung noch steigert. Jachen unterstreicht eine seiner Aussagen mit einer kurzen Pause. Jetzt schweigt auch das Holz und man könnte die Luft in Blöcke schneiden. Die Pause wird etwas länger, nur ein paar Sekunden, doch Zeit hat keine Bedeutung mehr. Die Spannung wird schon fast unangenehm, es zerreisst einen fast. Dann, endlich, die Erlösung. Jachen hat für einen Moment seinen Text vergessen und darum wurde die Pause ein wenig länger. Doch nicht zu lange, denn Jachen versucht gar nicht, etwas zu verheimlichen. Er löst die Situation mit seiner spontanen Art auf, indem er eine lustige Erklärung dazu bringt. Ein Stimmungswandel innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde.

 

So geht es dann auch den ganzen Abend lang weiter. Es ist eine bunte Mischung aus Humor und Ernst, oder auch von ernsthaften Situationen die auf urwitzige Weise erzählt werden. Man ist sich manchmal nicht sicher, ob Jachen etwas spontan einbringt oder ob alles so geplant ist. Er erzählt so natürlich und authentisch, halt lebensecht wie er es auch ist. Doch Jachen erzählt nicht nur, sondern er nimmt uns mit auf eine Reise durch seine Geschichte. Wir sind nicht nur Zuhörer, sondern seine Passagiere auf der Reise durch seine Vergangenheit. Und als solcher Passagier weiss man manchmal nicht, ob man weinen oder lachen soll. Es handelt sich um so unglaublich ernste oder traurige Themen, dass man emotional wird. Sie werden manchmal auf so eine witzige Art erzählt, dass man lachen muss, aber nicht weiss, ob es angemessen ist. Und all diese Gefühle sind trotzdem nur ein Bruchteil davon, was Jachen selbst durchgemacht hat.

 

Und nach all diesen Jahren steht Jachen nun auf der Bühne und macht einen Seelenstriptease. Er erzählt uns von seinen grössten Ängsten, doch er erzählt es trotzdem humorvoll. Er möchte uns keine Angst machen, sondern dass wir uns Gedanken machen. Er möchte uns alles Nötige auf den Weg mitgeben, um uns vor so einem Erlebnis zu bewahren. Er betont wie wichtig es ist, sich selbst wahrzunehmen, sich zu reflektieren und sich so zu (an)erkennen wie man eben ist. Er macht aber auch darauf aufmerksam, wie tückisch das sein kann. Sich selbst aus einer gewissen Distanz wahrzunehmen birgt schizophrene Züge. Darum ist es umso wichtiger, dass man gleichzeitig an seiner Achtsamkeit arbeitet und seine Selbstwahrnehmung trainiert. Das bedeutet zu lernen, in den Spiegel zu schauen und zu erkennen, wen man dort genau sieht.

 

Gegen Schluss bringt er dann seinen Herzenstext „Stockfinstere Nacht“, der seine Gefühlslage und den erleuchtenden Moment der Einsicht beschreibt, als er in der Clinica Holistica Engiadina in Susch war. Danach folgen sehr berührende Worte über die Bedeutung seines Umfelds und seiner Familie. Wie sein Freundeskreis kleiner aber ehrlicher wurde. Wie man doch auf seine Freunde eingehen soll. Oder dass man ihnen in harten Zeiten zumindest klar mitteilen soll, wenn der Weg der Freundschaft zu steinig werden sollte. Passend dazu folgt seine Danksagung an alle, die ihn auf seinem Weg so unermüdlich unterstützt haben. Zum Schluss trägt er noch einen neuen Text vor, den er für seine Frau Michaela geschrieben hat. Unglaublich rührend, frech, tiefgründig und zum Heulen witzig zugleich.

 

Als Zugabe folgt dann nochmals ein Text mit Madlaina, diesmal zum Thema Weltuntergang und Nachhaltigkeit. Wieder wird ein sehr ernstes Thema mit viel Humor kombiniert. Doch auch hier geht es nicht um Angstmacherei, sondern einfach darum, uns einen Spiegel vorzuhalten. Dieser abschliessende Text hat mir selbst dann die Augen geöffnet: Wieder so ein Spiegel. Es ist so ein Spiegel, der Jachen aus seiner aussichtslosen Situation herausgebracht hat. Ein Spiegel, den er selbst so lange nicht benutzt hat, bis er am Tiefpunkt seines Lebens angelangt war. Und genau an diesem Tiefpunkt ist es dann zu dunkel, um sein eigenes Spiegelbild zu erkennen. Ein Spiegel widerspiegelt alles gleichmässig, Licht wie auch Dunkelheit. Es kommt also darauf an, wie man den Spiegel ausrichtet. Man sieht immer nur genau das, was man sehen möchte.

 

Jachen, vielen herzlichen Dank! Vielen Dank für deinen Mut, dich nicht nur deinen Ängsten zu stellen, sondern auch uns davon zu erzählen und hoffentlich die Augen ein wenig zu öffnen. Vielen Dank für deine Gutmütigkeit, für den Spiegel und den Versuch, uns die Angst davor zu nehmen. Vielen Dank für deine Ausdauer und deine Kreativität. Vielen Dank für alles!

 

Diese Vorstellung war nicht nur eine Achterbahn der Gefühle, eher ein 4-D-Kino-Erlebnis des Lebens. Wer dieses Programm auch erleben möchte, kann am 17. Januar 2020 im Cuadro 22 die Zusatzvorstellung sehen. Weitere Infos und Tour-Daten gibt es unter www.wehrli-poetry.ch.

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