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Vielen Dank, ihr Debilen!


 

Vielen Dank, ihr Debilen!

 

Mein Bericht letzte Woche hat mich selbst ein wenig in meiner Vergangenheit und somit vor allem in meiner Schulzeit verweilen lassen, welche bestimmt auch nicht immer einfach für mich war. Doch rückblickend gesehen gibt es unglaublich viel Wertvolles, das ich dadurch gelernt habe und ohne diese Erfahrung wäre ich jetzt keineswegs da, wo ich jetzt bin.

 

Wird man in der Schule gehänselt, reagieren die Meisten auf zwei mögliche Arten: Rückzug oder Gegenangriff. Ich spreche hier vom Hänseln von vor 15 Jahren, das ging anscheinend noch etwas „menschlicher“ zu und her als heutzutage. Genau diese Entwicklung ergibt sich meines Erachtens aus der Reaktion der damals Gehänselten. Wer sich damals als Reaktion zurückgezogen hat, lebt vielleicht heute noch etwas zurückgezogener und gibt dieses Muster seinen eigenen Kindern weiter. Wer den Gegenangriff gewählt hat, lebt vielleicht auch heute noch so und gibt auch dieses Muster an seine Kinder weiter. Was wäre die Alternative? Ich versuche in jeder Lebenssituation drei Möglichkeiten als Reaktion zu finden und die dritte ist in diesem Fall die Lehre, die daraus gezogen werden kann. Wenn ich mich zu Hause über meine unangenehmen Mitschüler beschwert habe, hat mir mein Vater als Universallösung für jegliche Konflikte den Rat „einfach nicht hinhören“ mit auf den Weg gegeben. Im Nachhinein scheint mir dieser Rat völlig verständlich, aber damals war er absolut nicht anwendbar. Als pubertierender Jugendlicher kann man niemals „nicht hinhören“!

 

Doch was hätte mir damals geholfen? Was hätte mir mein Vater mit auf den Weg geben können, damit ich es leichter gehabt hätte? Diese Fragen sind für mich ziemlich schwierig zu beantworten. In der Zwischenzeit habe ich etliche Lehren aus meiner Schulzeit gezogen und ich bin dankbar für alles, was mir damals geschehen ist. Wenn ich diese unangenehmen Mitschüler heutzutage wiedersehe, was selten der Fall ist, dann fällt mir oftmals gleich auf, dass sich diese armen Gestalten immer noch im selben Muster befinden oder dass es sie gleich wieder dorthin zurück verschlägt. In der Zwischenzeit kann ich dieses Verhalten zum Glück belächeln und reagiere nicht mehr emotional darauf wie früher. Ich habe meine Lehren daraus gezogen und kann nun meistens so darauf reagieren, wie ich es möchte. Es hat mich gelehrt, achtsam zu sein und mein eigenes Verhalten zu beobachten. Meine Fähigkeit zur Selbstreflektion wurde gestärkt und auch mein Selbstwertgefühl ist um einiges stärker als es damals war. Ich empfinde Mitgefühl für all die armen Gestalten, die andere runtermachen in der Hoffnung, dadurch selbst besser dazustehen nur um zu erfahren, dass dies nicht stimmt. Diese armen Gestalten wissen haargenau, dass ihr Verhalten nicht langfristig zielbringend sein wird, doch sie kennen keinen anderen Weg oder keine andere Möglichkeit.

 

Zurück zu meiner Frage, was mir damals weitergeholfen hätte: Ich kann mir vorstellen, dass ich schneller zu meiner heutigen Einsicht gelangt wäre, wenn mir jemand das Verhalten meiner unangenehmen Mitschüler erklärt hätte. Dass sie sich aus Angst so verhalten: aus Angst nicht dazu zu gehören, aus Angst nicht gut genug zu sein, aus Angst nicht akzeptiert zu werden. Sie wollen ja nur genau diese Gefühle weitergeben, damit sie nicht alleine damit dastehen. Sie können diese Gefühle nicht zeigen und kennen nichts anderes, ihnen wurde nichts anderes beigebracht. Wer so aufwachsen muss, durchlebt wahrscheinlich die Hölle auf Erden. Befasst man sich nicht mit dieser Hölle, dann überlebt sie ein ganzes Leben lang und wird weitergegeben. So schliesst sich der Kreis und wird allenfalls noch verstärkt.

 

Doch wie überall gibt es auch noch die andere Seite und zwar die vom Mitgefühl. So paradox wie das Leben nun einmal ist, wirkt sich die Zunahme von Mobbing positiv auf das Mitgefühl aus. Das schwierige daran ist, genauso viel Mitgefühl für die Täter wie auch für die Opfer aufzubringen. Die Täter tragen einen grossen Anteil einer Opferrolle in sich; niemand wird grundlos zum Täter. Doch nur genug Mitgefühl aufzubringen für beide Seiten ändert in der Realität noch gar nichts. Das Thema Mitgefühl sowie weitere Themen (Dankbarkeit, Liebe, Respekt, Rücksicht, Achtsamkeit etc.) müsste schon im Kindesalter in den Alltag integriert werden, um langfristig eine positive Wirkung auf die Gesellschaft zu haben. Viele würden das sehr wahrscheinlich als Verantwortung der Eltern sehen, doch wie sollten diejenigen Eltern das umsetzen, die es nie selbst von ihren Eltern gelernt oder erfahren haben?

 

Das ist kein Vorwurf an irgendjemand, sondern eine möglichst nüchterne Betrachtung der jetzigen Situation. Es bringt nichts, einen Schuldigen suchen oder jemanden für diese Situation verantwortlich machen zu wollen. Es ist nun mal so wie es ist und das einzige, was wir daran ändern können, ist unser zukünftiger Umgang damit. Da ich selbst keine Kinder habe, könnte man mich nun als Heuchler darstellen, doch da gibt es noch einen weiteren Punkt. Es geht hier nicht nur um unsere Kinder, sondern in erster Linie um uns selbst. Wir können ja nichts weitergeben, das wir selbst gar nicht erst besitzen. Ich bin gerade in einer Phase im Leben, wo ich wieder wie ein Kind gewisse Grundlagen lerne, die ich eines Tages weitergeben möchte. Und einige davon gebe ich ja hier und jetzt schon weiter.

 

Meine persönliche Entwicklung der letzten zwei Jahren ist also vergleichbar mit derjenigen meines Neffen, der jetzt zwei Jahre alt ist. Er lernt zuerst die grundlegenden Fähigkeiten wie laufen, sprechen und die Beeinflussung seines Umfeldes durch seine sehr schnell stärker werdende Persönlichkeit. Ich meinerseits fokussiere mich auf letzteres, wobei die ersten beiden Bereiche nicht zu vernachlässigen sind. Unsere Persönlichkeit wird von unglaublich vielen Faktoren wie Gene, Familie, Umfeld, Kultur, Wohnsitz (Gegend, Land, Kontinent), Erziehung, Schule etc. beeinflusst und wie älter man ist, wie schwieriger ist es, aus diesen alten Mustern auszubrechen. Schiebt man sein Verhalten und alles, was einen ausmacht, auf seine Vergangenheit ab, dann hat man erst recht keinen Einfluss mehr auf jegliche Veränderungen oder Optimierungen. Nur wer den kleinsten Schimmer Hoffnung auf einen möglichen Einfluss wahrnimmt, kann diesen auch nutzen und sich nach seinen Wünschen weiterentwickeln. Natürlich ist das etwas schwieriger, als es hier klingen mag, doch der Punkt ist, dass es möglich ist für alle, die es für möglich halten. Und genau wie mein Neffe versuche ich heute auch wieder herauszufinden, wie stark (im positiven Sinn für alle Beteiligten) ich mein Umfeld mit meiner Persönlichkeit beeinflussen kann.

 

Dieser Bericht hat nun eine andere Richtung eingenommen, als ich es mir vorgestellt habe, doch das ist ganz gut so. Manchmal ist es wichtig, sich ein Resultat ganz genau vorzustellen. Oder wie es Albert Einstein einst gesagt hat: „Das wahre Zeichen von Intelligenz ist nicht das Wissen, sondern die Vorstellungskraft.“ Daran fasziniert mich, dass man sich ja gar nichts Unvorstellbares vorstellen kann. So gesehen wäre alles möglich. Doch manchmal muss man einfach etwas ausprobieren und wagen, ohne dass man eine genaue Vorstellung vom Resultat hat. Alle diese Einsichten sind Teile der Erfahrungen, die ich unter anderem durch meine unangenehmen Mitschüler gemacht habe.

 

Und daraus entstand auch der nicht ganz ernst gemeinte Titel: Vielen Dank, ihr Debilen!

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